Völlig überraschend ist die SPD umgekippt. Nun kann noch die FDP die Chatkontrolle stoppen. Sie müsste sich dafür jedoch an ihr Positionspapier und ihre Beschlüsse halten.
Das Innenministerium kann seinen Überwachungsdrang nicht ablegen: Gestern wurde bekannt, dass das SPD-Ministerium entgegen bisheriger Beteuerungen die Pläne zur Chatkontrolle vollumfänglich unterstützt.
Beim sogenannten Client-Side-Scanning werden Nachrichten direkt im Smartphone durchleuchtet. Anders als bei der weniger invasiven Telekommunikationsüberwachung, die nur nach richterlicher Anordnung bei Einzelpersonen stattfindet, soll die Chatkontrolle auf allen Geräten aller Bürger*innen vorgenommen werden. Weil dieses Durchleuchten vor und nach dem Verschlüsseln auf unseren digitalen Endgeräten stattfindet, schützt Verschlüsselung nicht vor dieser besonders invasiven Form der Massenüberwachung.
Geheimdienste und andere Befürworter*innen sehen in beeindruckender Definitionsakrobatik weder eine Verletzung von Grundrechten, noch das Umgehen von Verschlüsselung. Das ist ungefähr so überzeugend und übertrieben, wie die Installation von Kameras zum Abfilmen sämtlicher frisch geöffneter Briefe, um dann zu behaupten, dies sei kein Eingriff ins Briefgeheimnis, weil die Briefe ja bereits geöffnet seien.
Wer so argumentiert, hat jedes Vertrauen verspielt.
Im Koalitionsvertrag lehnten die Regierungsparteien “Maßnahmen zum Scannen privater Kommunikation” ab – so einfach könnte es sein. Das eindeutig grundrechtswidrige Gesetz würde vom EuGH mit großer Wahrscheinlichkeit gekippt werden.
Die vollautomatische Massenüberwachung soll der Eindämmung der Verbreitung von dokumentiertem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen dienen. Ein besserer Schutz für Kinder und Jugendliche ist aber nicht zu erwarten: Die Fehlerquoten solcher Systeme sind um Größenordnungen zu hoch, und nicht zuletzt nutzen Kriminelle andere Verbreitungswege. Das ist auch allen Beteiligten – allen voran Faesers Innenministerium – hinlänglich bekannt. Selbst der Kinderschutzbund ist gegen den Vorstoß.
Völlig richtig hat die FDP deshalb in einem Positionspapier festgelegt, dem Chatkontrolle-Gesetzentwurf allenfalls zuzustimmen, wenn geräteseitiges Scannen in einem eigenen Artikel explizit ausgeschlossen wird. Die Liberalen erinnerten sich an ihre Tradition als Bürgerrechtspartei.
Seit Dienstag wissen wir nun, dass die FDP-geführten Ministerien für Justiz und für Digitales und Verkehr sich noch in diesem Jahr mit dem Innenministerium einigen wollen. Das Innenministerium will “konkretisieren”, also Definitionsakrobatik betreiben, statt sich an den Koalitionsvertrag zu halten. Das Client-Side-Scanning, einst laut beschworene rote Linie der FDP, soll mit von der Partie sein.
Offenbar haben die Liberalen sich mit dem Kampf gegen bezahlbaren Personennahverkehr, für den völlig unsinnigen “Tankrabbatt” und ihrer Klientelpolitik für Porsche den Bogen überspannt. Das Einknicken beim historischen Massenüberwachungsgesetz soll nun offenbar wieder für Koalitionsfrieden sorgen.
Statt einer KI-basierten Massenüberwachung sollte die Ampel endlich ein Recht auf Verschlüsselung einführen. Client-Side-Scanning würde jede Verschlüsselung nachhaltig ruinieren. Als Vorsatz für das neue Jahr empfehlen wir, den Überwachungswildwuchs zu beenden und das Unkraut nach 16 Jahren CDU/CSU auf Grundlage einer ordentlichen Überwachungsgesamtrechnung zu entfernen.
Könnte vielleicht Porsche-Chef Oliver Blume die FDP an den Koalitionsvertrag, ihr eigenes Positionspapier und ihren eigenen Beschluss zur Chatkontrolle erinnern?