Der vom Chaos Computer Club (CCC) dokumentierte polizeiliche Übergriff gegen einen Demonstrationsteilnehmer im Rahmen der Demonstration "Freiheit statt Angst" am 12. September 2009 ist derzeit Gegenstand einer Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Berlin, da sowohl die verurteilten Polizisten als auch der Geschädigte gegen das ursprüngliche Urteil Berufung einlegten. Auch wenn dem Geschädigten schon zivilrechtlicher Schadensersatz zugesprochen wurde, entsteht der Eindruck, das Landgericht wolle die beklagten Polizisten jetzt freisprechen. Um der interessierten Öffentlichkeit den notwendigen Einblick in die Sachlage zu verschaffen und die grotesk vom Geschehenen abweichenden Stellungnahmen der Polizisten zu beleuchten, dokumentieren wir hiermit die Stellungnahme des in dieser Sache auch vom CCC unterstützten Rechtsanwalts Johannes Eisenberg, der den "Radfahrer im blauen T-Shirt" vertritt.
Pressemitteilung von RA Eisenberg vom 7. Mai 2013 (263/09 eis)
Neues vom Fall des Radfahrers mit blauem T-Shirt, Opfer von Polizeigewalt am Rande der Demonstration „Freiheit statt Angst“ am 12. September 2009
Berufungsverhandlung gegen gewalttätige Polizisten läuft seit dem 19. April 2013 – Landgericht Berlin 564 – 93/12
hier: Sache des Nebenkläger Dr. H.
Nächster Fortsetzungtstermin: 10. Mai 2013, Kriminalgericht Moabit, Saal noch unbekannt
Sehr geehrte Damen und Herren,
möglicherweise stehen die Polizeibeamten vor einem Freispruch.
Am 12. 9. 2009 fielen zwei Polizeibeamte über Herrn Dr. H. her. Der eine („Reißer“) riß ihn am T-Shirt, warf ihn dem anderen („Schläger“) entgegen, der ihn mit einem vollen Faustschlag ins Gesicht traf. Der „Reißer“ griff ihn mit der Hand in den Mund, zerrte an den Lippen und streckte ihn mit einem weiteren Faustschlag zu Boden. Das alles zeigt eine Videoaufnahme, die noch am 12. 9. 2009 in den Abendnachrichten im Fernsehen die Öffentlichkeit schockiert hat.
Die Folgen dieses mittäterschaftlich begangenen Angriffs der beiden Polizeibeamten sind laut gutachterlichen Feststellungen des Prof. Dr. Tsokos vom 14. 9. 2009 und den Protokollen der behandelnden Ärzte: „Unterlippe zerrissen, mußte genäht werden. Oberlippe zerrissen und vom Kiefer abgerissen, sie mußte genäht werden. In der linken Schläfenregion mehrere zwischen 1 und 2,5 cm durchmessende rötliche Hautabschürfungen, diskrete Schwellung und Druckschmerzhaftigkeit; im Bereich der rechtsseitigen behaarten Schläfenregion eine in Längsrichtung gestellte, 2 cm messende oberflächliche Hautabschürfung und Weitere.“
Gegen das Urteil erster Instanz, mit dem beide Polizeibeamte zu je 120 Tagessätzen a 50.- € Geldstrafe wegen Körperverletzung im Amt verurteilt wurden (AG Tiergarten 263a Ds 96/10) haben alle Beteiligten Berufung eingelegt. Die Nebenklage verlangt die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung, weil die Polizeibeamten gemeinschaftlich gegen den Nebenkläger vorgegangen sind, die Staatsanwaltschaft eine Erhöhung der Strafe (sie hat ihr Rechtsmittel beschränkt), die Verteidigung weiter Freispruch.
Die Polizeibeamten beschränken sich darauf, vorgefertigte Erklärungen verlesen zu lassen. Fragen beantworten sie nicht.
Der „Reißer“ macht geltend, er habe den Platzverweis eines anderen Polizisten durchsetzen wollen, dagegen habe sich der Nebenkläger gewehrt, so daß er zur Durchsetzung des Platzverweises einfache körperliche Gewalt und einen Nasenhebeldruck habe einsetzen müssen.
Der „Schläger“ macht geltend, er habe den Nebenkläger nicht schlagen wollen, sondern eine andere Person, die versucht habe, den Nebenkläger „gefangenen zu befreien“. Dabei habe er den Nebenkläger unbeabsichtigt getroffen, als dieser den Kopf in seine Schlagbahn bewegt habe.
Am 3. Mai wurde der vor Ort eingesetzte Vorgesetzte der beiden Polizeibeamten gehört. Er hielt deren Vorgehen für rechtmäßig: Der Nebenkläger habe sich nicht in die ihm gewiesene Richtung bewegt, um den ihm ausgesprochenen Platzverweis zu befolgen. Der Angeklagte „Reißer“ habe danach das Recht gehabt, unmittelbaren Zwang anzuwenden. Das habe er getan, indem er an dem Fahrrad und anschließend am Nebenkläger gezogen habe. Da sich der Nebenkläger entgegen gestemmt habe („Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“), habe der „Reißer“ ihn festnehmen müssen und dazu die erforderliche „einfache“ Gewalt anwenden müssen, einschließlich des Nasenhebeldrucks und des Schlages, um den „Widersstand“ zu brechen. Der „Schläger“ habe von einer Gefangenenbefreiung ausgehen müssen und daher den „Gefangenenbefreier“ schlagen dürfen. Da der Nebenkläger seinen Kopf in die Schlagfaust gehalten habe, sei auch das keine Straftat.
Nach der Art der Verhandlungsführung besteht jedenfalls bei mir die Befürchtung, daß das Gericht diesen Ausflüchten folgen wird. Damit werden falsche strafrechtliche Maßstäbe gesetzt für zukünftiges gewalttätiges Polizeihandeln.
Die Staatsanwaltschaft sah und scheint auch heute die Sache anders zu sehen: In der Einstellungsverfügung des von den angeklagten „Reißer“ und „Schläger“ abgezettelten Strafverfahrens gegen den Nebenkläger schreibt der Staatsanwalt nach Durchsicht der Videoaufnahmen bereits im Juni 2010: „... ist ein strafrechtlich relevantes Verhalten des (Nebenklägers) im Sinne eines Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte nicht …. erkennbar. Insoweit bleibt zunächst festzustellen, dass es sich bei dem den Nebenkläger treffenden Faustschlag gegenüber seiner Person nicht um eine rechtmäßige Diensthandlung gehandelt hat; es gab für einen Faustschlag in das Gesicht des Geschädigten keinen Grund..... war für den Nebenkläger eine rechtmäßige Diensthandlung nicht erkennbar. Er hätte sich insoweit dieser Maßnahme im Weiteren auch (straflos) widersetzen dürfen.“
Eisenberg, Rechtsanwalt
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